Chiesa di San Francesco d’Assisi (Matera)
 
 
Matera liegt in der Region Basilikata im Süden Italiens. Nur wenige Km von meinem Heimatdorf: Montescaglioso. 
Die Sassi sind zwei alte Stadtviertel von Matera – Sasso Barisano und Sasso Caveoso – gebaut in und aus dem Tuffstein, in die Felsen hineingeschnittene Höhlenwohnungen, Gänge, kleine Plätze, Kirchen. Aber was genau sind sie, wie alt, wie viele Menschen haben da gelebt, und wie sieht es heute aus?
Wortherkunft / Name: „Sassi“ heißt wörtlich „Steine“. Gemeint sind damit die Behausungen, die in Felsen gehauen sind, und die gemauerten Aufbauten, die daraus entstanden sind.
Sie bestehen aus zwei Hauptteilen: Sasso Barisano (etwas formeller, mit größeren Fassaden, Zugängen von außen) und Sasso Caveoso (oft ursprünglicher, dichter, mehr Höhlenstruktur)
Die Höhlenwohnungen (case grotte) sind oft mehrstöckig übereinander gebaut, auf Terrassen, mit Höhlen, Vaults, teils natürlichen Hohlräumen, teils künstlich erweitert. Die Gassen laufen über dem Dach der darunter liegenden Behausungen.
Erste Spuren menschlichen Lebens in der Umgebung von Matera gehen zurück auf den Paläolithikum, Hunderttausende Jahre v. Chr. Etwa 400.000 Jahren alt sind einige Funde in Höhlen wie der „Grotta dei Pipistrelli“.
Intensivere Siedlungen, Höhlen als Wohnraum, Anfänge des Höhlenwohnens, lassen sich schon im Neolithikum nachweisen (5. Jahrtausend v. Chr.) rund um Matera.
Die Bezeichnung „kontinuierlich bewohnt“ wird häufig benutzt: Die Sassi wurden über Jahrtausende hinweg (mit Unterbrechungen und Perioden intensiver Nutzung bzw. Vernachlässigung) bewohnt bis ins 20. Jahrhundert. Bis in die 1950er Jahre leben dort Menschen.
Laut verschiedenen Quellen lebten in den Sassi in den 1950er Jahren etwa 15.000–16.000 Menschen.
Das war ungefähr die Hälfte der Bevölkerung der ganzen Stadt Matera damals, denn Matera hatte damals etwa 30.000 Einwohner insgesamt.
Heute sind es deutlich weniger. Schätzungen variieren: Manche Quellen nennen ca. 2.000 Einwohner in den Sassi.
Andere angeben ~3.000 Menschen.
Es hängt davon ab, wie man „bewohnt“ definiert – vollständig saniert, bewohnbar, teils restauriert etc. Denn ein Teil der Höhlenwohnungen ist heute touristisch, Hotels, Restaurants oder wird für Veranstaltungen verwendet.
Laut UNESCO enthält das Gebiet der Sassi und des Parkes der rupestrischen Kirchen mehr als tausend Wohnbauten (dwellings), plus zahlreiche Geschäfte, Werkstätten, Kirchen etc.
Genaue Zahlen, wie viele Höhlenwohnungen existieren (bewohnt oder unbewohnt, restauriert oder zerfallen), sind schwer zu finden – Teile sind ruiniert, abgesperrt, unsicher. Aber die Angabe „über tausend Wohnungen“ trifft wohl zu, wenn man auch unbewohnte mitrechnet.
Damit die Zahlen verständlich sind, hier ein kurzer Abriss der Entwicklungen:
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts lebten Menschen kontinuierlich in den Sassi – unter teils extrem problematischen Bedingungen: Überfüllung, schlechte Gesundheitsversorgung, keine Kanalisation, Feuchtigkeit etc.
1952: Italien verhängte ein Gesetz, mit dem ein großer Teil der Bewohner aus den Sassi umgesiedelt wurde. Die Zustände galten als unhaltbar.
In den 1980er Jahren begannen erste Sanierungsmaßnahmen, Rückkehr von Bewohnern, Restaurierung.
1993: Anerkennung durch UNESCO als Weltkulturerbestätte („The Sassi and the Park of the Rupestrian Churches of Matera“)
Ich finde diesen Teil besonders faszinierend: Die Vorstellung, dass man auf dem Dach einer Höhle geht, und das Dach gehört gleichzeitig zur Wohnung darunter. Das heißt: dein Weg zur Haustür kann gleichzeitig Dach eines anderen Hauses sein. Das macht Matera baulich komplex und lebendig – hier laufen Geschichte und Alltag ineinander, nicht wie in einem Museum.
| Aspekt | Zahl / Schätzung | 
|---|---|
| Erste menschliche Nutzung (Paläolithikum) | ± 400.000 Jahre v. Chr. für Höhlen-Nutzung; intensivere Siedlungen im Neolithikum (5. Jahrtausend v. Chr.) | 
| Dauer der kontinuierlichen Besiedlung bis zur großen Umsiedlung | bis in die 1950er Jahre | 
| Einwohnerzahl in den Sassi in den 1950er Jahren | etwa 15.000–16.000 Menschen | 
| Einwohner aktuell in den Sassi | ca. 2.000 bis 3.000 Menschen | 
| Anzahl der Höhlenwohnungen / Wohnbauten (einschließlich ungenutzt) | über 1.000 Wohnbauten / Wohnungen / Höhlenhäuser | 
Sie zeigen eine extreme Form der Anpassung an Landschaft und Geologie. Matera ist auf dem Kalkfelsen („tufo“) gebaut, Höhlenhöhlen in den Gräben („gravine“), mit Wasserzisternen, Wegen, kleinen Kirchen in den Felsen („chiese rupestri“).
Der Wiederaufbau / die Restaurierung ist nicht nur touristisch: Menschen sind zurückgekehrt, Wohnungen wurden saniert, neue Nutzung – Hotels, Restaurants, Werkstätten – entstanden. Matera ist heute ein Beispiel dafür, wie ein historisch verfallener Ort mit politischen Entscheidungen und kulturellem Bewusstsein wieder lebendig werden kann.
Wie viele der bestehenden Höhlenwohnungen sind dauerhaft bewohnt vs. touristisch genutzt bzw. leer?
Wie viele Wohnräume sind in schlechtem Zustand und wie groß sind die Restaurierungskosten pro Einheit?
Wie sieht es mit Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Erreichbarkeit aus – insbesondere für dauerhaft Bewohner, nicht Touristen?
Die typische Höhlenwohnung — die „casa grotta“ — war selten ein Einzimmer-Loft mit Panorama. Vielmehr: dichte, funktionale Räume, oft in einer großen, in den Fels gehauenen Kammer organisiert. Vorne lag der helle Bereich (Eingang, Tisch, Herd). Weiter innen folgten Stall und Lager. Oben, in einer Art Hochbett oder Loft, schlief die Familie. Kurze Wege. Alles eng.
Beispiel: Das Museum „Casa Grotta di Vico Solitario“ zeigt genau diese Dreiteilung: Küche/Tisch, Stall mit Esel oder Kuh, und ein hohes Bett mit einer Matratze, die zur Hälfte mit Wolle und zur Hälfte mit Maisblättern gefüllt war (im Winter die Wolle oben, im Sommer die Maisfüllung — einfach umzudrehen). Clever gegen Feuchtigkeit.
Kurz gesagt: Wohn-, Schlaf- und Nutztier-Zonen waren nicht getrennte Welten. Sie lagen nebeneinander. Man kochte, man schlief, man melkte die Kuh — alles innerhalb weniger Meter. Das erklärt einiges. Zum Beispiel, warum Seuchen sich so schnell ausbreiten konnten.
Wasser war heißes Gut. Nicht selbstverständlich. In Matera gab es ein komplexes System aus privaten und öffentlichen Zisternen — manche sehr, sehr groß. Die größte, der Palombaro Lungo unter Piazza Vittorio Veneto, fasste rund 5 Millionen Liter und wurde über Jahrhunderte erweitert; sie wurde erst Ende 20. Jahrhundert (Wiederentdeckung 1991) für die Öffentlichkeit zugänglich. Regen- und Quellwasser wurde aufgefangen, geleitet und in Tonnen oder via kleinen Schachtöffnungen entnommen.
Praktische Folge: Viele Haushalte hatten zwar Zugang zur Zisterne, aber nicht zu fließender Kanalisation oder regelmäßig sauberem Leitungswasser — noch bis ins frühe 20. Jahrhundert. Wasser sparen war Alltag; Wasser teilen auch.
Die Kombination aus Enge, Feuchtigkeit, Tierhaltung im Haus und fehlender Kanalisation war tödlich für die öffentliche Gesundheit. Krankheiten wie Malaria, Dysenterie und Augeninfektionen (z. B. Trachom) waren verbreitet. In den Berichten der Nachkriegszeit wurde Matera als „Schande Italiens“ bezeichnet — Bilder davon setzten politisch einiges in Bewegung.
Konkrete Zahl, damit es nicht abstrakt bleibt: In der Mitte des 20. Jahrhunderts lagen die Säuglings-/Kindersterblichkeitsraten extrem hoch; Zeitgenössische Berichte nennen für Matera Werte im Bereich von bis zu 44 % (Infant mortality), ein Fakt, der als Hauptargument für die Umsiedlungspolitik der 1950er diente. Das ist nicht nur Statistik — das sind Menschen, jede Zahl ist eine Geschichte.
Das Zusammenleben mit Nutztieren im Inneren war die Norm. Esel, Maulesel, Hühner, Schweine — oft unter einem Dach. Tiere gaben Arbeit, Transport, Nahrung. Aber sie brachten auch Dreck, Parasiten und Geruch. In vielen Casa-Grotte-Museen sieht man daher bewusst ein aufgebautes „Stall-Eck“ direkt neben dem Herd.
Anekdote: In manchen alten Höfen war der Boden in einen Bereich für Stroh/Manure und einen für Sitzen/Arbeiten eingeteilt. Praktisch — und problematisch für Hygiene. Keiner der damals Lebenden hätte den Begriff „separates Badezimmer“ gerne gekannt.
Die Basis war Brot, Öl, einfache Gemüse, Bohnen, manchmal etwas Käse oder Pökelfleisch. Pane di Matera (traditionelles Brot aus lokalen schwereren Sorten und langer Fermentation) ist kein modernes Marketing: die Bewohner backten große Laibe, die lange hielten — wichtig, wenn man nicht täglich nachkaufen konnte.
Wichtig: Brot wurde oft in kommunalen Öfen gebacken. Familien brachten Teig, und am Ende erkannte jede ihren Laib an einem Brotstempel — einem Holzstempel mit Familienzeichen. Das war Identität und Praxis zugleich. Bis in die 1950er war dieses System noch lebendig.
Das Leben in den Sassi war eng mit Landwirtschaft und Viehzucht verwoben: saisonale Bewegungen (Transhumanz), Ackerbau, Wein, Oliven, Vorratshaltung. Gleichzeitig gab es lokale Handwerke: Steinbearbeitung, Töpferei, Weberei, Schmiedearbeiten — oft in kleinen Werkstätten, die an die Wohnräume grenzten. Handwerk wurde von Generation zu Generation weitergegeben.
Kurz gesagt: die Stadt war gleichzeitig Produktionsort, Wohnort und Lager. Kein scharfer Bruch zwischen Arbeit und Privatleben — das „Büro“ war die Werkbank, die Werkbank die Küche.
Familien waren groß — sechs, acht, manchmal zehn Personen waren nichts Ungewöhnliches. Kinder halfen früh mit. Mehrere Generationen unter einem Dach: Opa, Eltern, Kinder, manchmal Großfamilien-Zweige. Platzmangel bedeutete: wenig Privatsphäre, viel Kontakt. Das formte Sozialverhalten: gegenseitige Hilfe war normal. Und natürlich: Ärger floss schnell, weil man sich ständig sah.
Die Kirche hatte eine starke Rolle: religiöse Feste, Schutzrechte, Rituale — sie war sowohl sozialer Kitt als oft auch Vermittler zwischen staatlicher Verwaltung und Bevölkerung.
Dach-Straßen: Viele Gassen sind buchstäblich Dächer anderer Häuser — darüber läuft der Fußweg. So entstehen mehrere Ebenen der Stadt, quasi „Häuser-auf-Häuser“. Das ist praktisch und räumlich effizient, aber kompliziert bei Regen oder Reparaturen.
Kleine Lüftungs- und Lichtschächte: Fenster waren sparsam. Licht fiel meist vom Hof oder Eingang herein. Deshalb lagen die Küche/Tischräume vorne.
Wasserleitungen & Kanäle: Kanäle im Fels leiteten Regenwasser in Zisternen. Dieses „negative“ Bauen (Leerräume als Ressource) ist typisch und smart — technisch durchdacht. Der Palombaro Lungo ist ein Extrembeispiel.
Stell dir eine Familie vor: Der Hahn kräht. Die Mutter knetet Brot. Der Vater führt den Esel zur Arbeit. Kinder füttern Hühner, holen Wasser an der Zisterne (oder aus dem Gemeinschaftsloch), bringen Teig zum Ofen. Das Abendessen: Bohnen, Brot, Öl. Dann Webstuhl oder Reparaturarbeiten. Licht: Öllampe oder Kohlebrasiere. Gespräche über Löhne, Regen, Ernte. Schlaf: eng, viele Menschen in einem Raum. Nicht romantisch. Eher robust.
Man vergleicht Matera manchmal mit Kappadokien (tropfsteinhöhlen, Höhlenkirchen, Tourismus). Es stimmt: beide sind Höhlensiedlungen. Aber: Matera ist ein urbanes Geflecht, mit Zehntausenden Menschen, städtischer Dichte und einer langen Kontinuität der Nutzung; Cappadocia ist stärker ländlich-sakral strukturiert. Ähnlichkeiten helfen zur Einordnung — doch Matera ist in Europa in dieser Kontinuität ziemlich einzigartig.
Wer heute einen konkreten Eindruck haben will: Casa-Grotte-Museen (z. B. Vico Solitario, „C’era una volta…“, Casa Grotta del Casalnuovo) sind konservierte Interieurs mit Herd, Tisch, Stall-Ecke, Bett, Brotstempel und Webstuhl — also genau die Objekte, über die ich schreibe. Und wer die Wasserwirtschaft sehen will: runter zum Palombaro Lungo.
Frage: Was heißt „case grotte“?
Antwort: Das sind Höhlenhäuser – Wohnungen, die in den Felsen gehauen wurden bzw. natürlich vorhandene Höhlen, die zu Wohnräumen umgebaut wurden. Oft niedrig, einfach, feucht – früher mit Tieren im gleichen Raum etc.
Frage: Wann wurde die Zwangsräumung / Umsiedlung durchgeführt?
Antwort: 1952 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Sassi unter Special Law stellte, um die Bevölkerung umzusiedeln. Der Prozess zog sich über einige Jahre.
Frage: Leben heute dauerhaft Leute dort oder nur Touristen?
Antwort: Beides. Es leben dauerhaft Menschen in den sanierten Wohnungen der Sassi (ein paar Tausend), aber viele Höhlen sind heute als Hotels, Bars, Restaurants oder Museen in Nutzung. Nicht alle sind dauerhaft bewohnt.
Frage: Wie viele der ursprünglichen Höhlenhäuser existieren noch?
Antwort: Schwer exakt zu sagen. UNESCO spricht von über tausend Wohnbauten im Areal. Einige sind in schlechtem Zustand oder nicht bewohnbar. Viele wurden restauriert.
Wie groß waren die Familien in einer Casa grotta?
Meist Mehrgenerationen-Haushalte: oft 6–10 Personen; in schriftlichen Berichten der 1940er/50er wird von Familien in dieser Größenordnung berichtet.
Waren Tiere immer im Haus?
Ja — in vielen Fällen. Platz- und Flächenmangel zwangen dazu. Esel, Hühner, Schweine wurden teils über Jahre im Inneren gehalten.
Wie kam das Wasser ins Haus?
Über ein Netz von Kanälen und Zisternen: private Kleineinheiten und große öffentliche Zisternen (Palombaro Lungo ~5 Mio. Liter). Wasser wurde aus Löchern geschöpft oder über Leitungen verteilt.
Warum wurden Menschen 1950er umgesiedelt?
Weil die hygienischen Bedingungen, hohe Kindersterblichkeit und die extreme Enge als unhaltbar galten; staatliche Programme setzten die Umsiedlung technisch-politisch durch. Das war eine Zäsur
Matera, Sassi, Höhlenwohnungen, Geschichte, Architektur, südliches Italien, UNESCO, Bevölkerungsentwicklung, Restaurierung, Neolithikum
I Sassi di Matera sind jahrtausendealte Höhlenwohnungen in Süditalien – seit dem Neolithikum bevölkert, im 20. Jahrhundert mit ~15-16.000 Menschen, heute leben ca. 2–3.000 dort. Über 1.000 Wohnbauten, Kirche, Alltag & Sanierung – Fakten mit Geschichte.
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